Adler und Freud – zwei „Väter“ von SYNCHRONIZING®.

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Von Markus Jensch

Als Sigmund Freud im Jahr 1911 Alfred Adler zwang, die psychoanalytische Gesellschaft zu verlassen, ging eine vielversprechende Kooperation zweier ungleicher Charaktere zu Ende.

Viel ist darüber nachgedacht und geschrieben worden, wie sich die Tiefenpsychologie wohl entwickelt hätte, wenn die Beiden weiter zusammengearbeitet hätten. Es ist müßig, darüber zu spekulieren – eines bleibt aber festzustellen: Die komplementäre Entwicklung schuf ein neues Gedankengut. Adler sah sich gezwungen, seine Gedanken in einem neuen Begriffs-Gebäude unterzubringen. In seiner Bockigkeit und Eitelkeit mied er fast alle analytischen Wortschöpfungen, die sich bis dahin bereits etabliert hatten und zu deren Entwicklung er z.T. nicht unerheblich beigetragen hatte.

Seine Alternative zu Freud musste dementsprechend stringent komplementär formuliert werden. Diese Entwicklung führte naturgemäß zu Wortschöpfungen, die nicht immer besonders glücklich waren. Zu diesen Begriffen zählte der Name, den er seiner psychologischen Schule gab: Individualpsychologie! Dieser Begriff wird stets missverstanden als „Psychologie des Individuums“ – meint jedoch genau das Gegenteil: Eine Psychologie der Un-Teilbarkeit (in-dividual), der totalen Vernetztheit des Menschen mit seinen Mitmenschen, mit seiner Umgebung bis hin zum Universum. Den Begriff des Unbewussten „verbog“ er zum „Unerkannten“ usw.

Dafür blieb es Adler fortan erspart, das Freudsche Konstrukt des „Ödipuskonfliktes“ als bedingend für jedwede neurotische Fehlentwicklung anerkennen zu müssen. Der sich ihm neu eröffnende Denk-Raum führte zu der Entwicklung einer konsequenten Psychologie der Final-Betrachtung des seelischen Geschehens. Adlers Frage nach dem Wozu des Verhaltens allgemein und nach dem Sinn (dem Wozu) seelischer und körperlicher Symptombildungen nahm die späteren Entwicklungen der Humanistischen Psychologie und der Systemischen Richtungen lange vorweg. Steve de Shazers Frage nach dem Wozu ist ein später Neuentwurf des lange bekannten aber selten erwähnten und fast nie zitierten psychologischen Ansatzes von Alfred Adler. Die Adlerschen Abwendung von Freud führte zu merkwürdigen Entwicklungen: In den siebziger Jahren des 20.
Jahrhunderts wurde auf tiefenpsychologischen Kongressen – auch auf solchen der „Adlerianer“ – darüber diskutiert, ob die Individualpsychologie (IP) überhaupt eine Tiefenpsychologie sei – was insbesondere die Vertreter der amerikanischen Individualpsychologie heftig bestritten. Es ist den deutschsprachigen Vertretern der IP zu verdanken, dass die geistige Nähe zu Sigmund Freud neu belebt wurde. Seitdem ist das Lager der IP gespalten – wie es in anderen Schulen von jeher üblich ist.

Wo steht nun Synchronizing? Aus welcher Tradition kommt das Konzept? Welchen psychologischen Schulen steht das Modell nahe? Und wie lassen sich Verbindungen darstellen?
In dem vorliegenden Info-Brief soll der Versuch unternommen werden, die geistigen Bande zwischen Psychoanalyse, Individualpsychologie und Synchronizing kurz zu beschreiben und einige Verknüpfungen aufzuzeigen.

Wenn wir Freuds Verdienst für die Psychologie verstehen wollen, müssen wir uns die Zeit vergegenwärtigen, in der er lebte: K&K-Monarchie, Geist des „Untertan“ (H. Mann), Überlegenheit des Mannes, Tabuisierung der Sexualität, „Protest“ der Frauen durch Reaktion mit konversionsneurotischen Erkrankungen, die damals schlicht Hysterie genannt wurden – Erkrankungen also, die wir heute auch „psychosomatisch“ nennen.
Als Freud 1885 für fünf Monate nach Paris zu dem berühmten Psychiater Charcot reiste (Stipendium), lernte er dort die Technik der Hypnose zur Behandlung der Hysterie kennen. In diesen Monaten erschloss sich Freud die Tatsache, dass es so etwas wie ein Nichtbewusstes gibt, das die Steuerung über das Bewusstsein übernehmen konnte. Die „Aufdeckung“ der geheimen Triebkräfte des Seelischen faszinierte Freud derart, dass er sich danach von der rein medizinischen Forschung nicht mehr angezogen fühlte.
Freud ist es zu verdanken, dass er die Erkenntnisse über nicht-bewusste Vorgänge, die es zu dieser Zeit ja bereits gab, zusammen führte und später zu einer Theorie des Unbewussten und noch später zur Theorie des „seelischen Apparates“ ausbaute.
Von Charcot übernahm er die Technik der Hypnose und die Faszination, dass die unbewussten Kräfte des Seelischen so groß sein konnten, dass sie das Bewusstsein matt setzen konnten.

Von seinem Freund, dem Arzt Josef Breuer, übernahm er die „kathartische Methode“, die dieser Anfang der 1890er zu einer „Rede-Kur“ entwickelt hatte. Diese Methode führte zum Wachrufen traumatischer Erlebnisse, die im Gespräch dann bearbeitet wurden und so zu einer Reinigung (Katharsis) führten. Mit Breuer veröffentlichte Freud 1895 ein Buch über die Behandlung der Hysterie („Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“).

Wenn wir über Freuds Begriffe wie „Mechanismus“ oder den „psychischen Apparat“ berichten, dann entsteht leicht der (falsche) Eindruck eines rein mechanistischen Denkens. In Wirklichkeit ging es ihm von Anfang an um das vielfältige Zusammenspiel psychischer Kräfte (Dynamis = Kraft) – wir sprechen heute auch schlicht von Psychodynamik. In diesem Sinne ist das SYNCHRONIZING-Modell auch ein Modell, in dem es um die vielfältigen Wirk-„Mechanismen“ seelischer Kräfte oder seelischer Schwingungs-Muster geht. Bei Freud – wie auch im SYNCHRONIZING – geht es um die Verdeutlichung struktureller Beziehungs-Zusammenhänge, um Wirkung und Gegenwirkung, Kraft und Gegenkraft.

Dass sich Freud in der damaligen Zeit daran machte, alle neurotischen Symptombildungen aus fehlgelenkter sexueller Energie abzuleiten, macht ihn angreifbar (weil es nicht stimmt), ist aber verständlich aus den Anfängen seiner Forschungen über die „Ätiologie (=Herkunft) der Hysterie“. Hier entdeckte er die psychodynamischen Zusammenhänge zwischen verdrängten (verbotenen) sexuellen Wünschen und seelisch bedingten, körperlichen Erkrankungen (Hysterie). Und nachdem er entdeckte, dass schwere Neurosen in einem engen Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in der Kindheit standen, lag es für ihn – als kreativem, mutigen Forscher – nicht fern, aus dieser Erkenntnis heraus ein entsprechendes Gesetz zu postulieren. Dass er alles daran setzte, dieses „Gesetz“ später mit allen Mitteln zu beweisen, ist menschlich nachvollziehbar, wissenschaftlich aber anfechtbar. Dass er kritischen Einwänden gegenüber seiner Theorie oft mit Gegenkritik begegnete, macht ihn – zu Recht – angreifbar. Zu Unrecht aber wird von Kritikern deshalb sein ganzes Werk in Frage gestellt.

Es ist unbestritten, dass durch eine „Rede-Kur“ alle Symptome einer „hysterischen“ Erkrankung geheilt werden konnten. Freud erweiterte die Methoden der deutenden Gesprächstherapie, die er später Psychoanalyse nannte – um eine Methode, die er von Bernheim übernommen hatte; um die Technik der freien Assoziation.
Erst mit dieser Methode gelang es ihm, auch solchen Patientinnen zu helfen, die sich nicht hypnotisieren ließen. Nachdem er den Vorteil der freien Assoziation gegenüber der Hypnose erkannt hatte, setzte er diese Methode als Universaltechnik zur Deutung von Träumen ein.

Alle tiefenpsychologisch fundiert arbeitenden Psychotherapeuten und Berater setzen diese Methode der freien Assoziation in irgendeiner Abwandlung ein. In der Coaching-Arbeit mit Klienten und Kunden setzen wir diese Methode ebenfalls ein – als starkes „Instrument“ zur Erkenntnis der eigenen Verhaltens- und Denk-Strukturen. Wenn ein Kunde eine Kreuzung malt oder eine Filmszene erzählt, wenden wir uns gemeinsam deutend diesen projektiven Materialien zu.

Der Kunde nimmt die Position eines Psychologen ein, der zu den Materialien freie Assoziationen produziert. Der Coach assoziiert ebenfalls frei dazu und liefert somit das, was bei Freud Deutung genannt wird. Hier liegt wohl der entscheidende Unterschied zur Freudschen Methode: Bei Freud hat die Deutung einen vergleichsweise objektiven Charakter: Nimmt der Patient die Deutung nicht an, gilt dies leicht als Widerstand, was dann also weiter zu bearbeiten wäre…

In der SYNCHRONIZING-Arbeit assoziieren wir frei, sehen in den „Deutungen“ aber nur Angebote, die durchaus eher den Lebensstil (die Strukturmerkmale) des Coaches zeigen als die des Coachees. Es ist deshalb erforderlich, dass die Coaches gut über ihre Übertragungs- und Gegenübertragungs-Muster Bescheid wissen.

Wir sind uns aber – mit Freud – im Klaren darüber, dass jedes projektive Material des Klienten „sinnvoll“ ist, dass es keine zufälligen Projektionen gibt, dass sie also etwas über seinen „Lebensstil“ (Adler) – über seine Schwingungsmuster (Synchronizing) aussagen. Wenn wir unsere eigenen Deutungsangebote nicht „platzieren“ können, gehen wir aber – im Gegensatz zu Freud – davon aus, dass es sowohl vom Klienten (zur Zeit) nicht angenommen wird (werden kann) als auch davon, dass es als ein Übertragungs-„Produkt“ des Coaches derzeit einfach unpassend ist. Insofern relativieren wir den Begriff „Deutungskunst“ von Freud und nennen ihn „Angebot zum Weiterdenken“. Wir gehen nicht von dem Anspruch aus, dass unsere Deutungsversuche richtig oder objektiv sein könnten. Sie sind nützlich für das weitere Nachdenken und somit für den weiteren Erkenntnisgewinn.

Auch Freuds Phasen-Theorie von der Entwicklung der Persönlichkeit in den ersten Lebensjahren finden wir – eingeschränkt – bei SYNCHRONIZING wieder: In unserer Nähe-Achse mit dem Pol „Nähe“ finden wir die „orale Phase“ wieder, in der Selbständigkeits-Achse finden wir die „anale Phase“ des zweiten Lebensjahres wieder und die Durchsetzungs-Achse repräsentiert die „phallische Phase“ der Entwicklung im dritten Lebensjahr.

Mit Freud und Adler verbinden uns u. a. die Ansichten:

• dass die frühen Lebensjahre auch im psychischen Bereich stark prägend sind,
• dass die Verdrängung zur Unterdrückung bewusstseinsfähiger Inhalte führt: Wir neigen jedoch dazu, diesen Vorgang mit dem Adlerschen Begriff der „tendenziösen Apperzeption“ zu belegen. Dies heißt: Wir drücken Inhalte nicht weg, sondern wir bringen sie in andere Zusammenhänge (legen sie quasi mit System „falsch ab“),so dass sie für uns nicht mehr auffindbar sind,
• dass die sexuellen Triebkräfte eine wichtige – wenn auch nicht ausschließliche ¬- Rolle bei der Entstehung der Neurosen spielen. Dass allerdings jeder Neurose ein Ödipuskonflikt zugrunde liegen muss (Freud) lehnen wir – mit Adler – rundweg ab,
• dass Kräfte und Gegenkräfte sich polar gegenüberstehen: Wir verwenden hier die Adlersche Terminologie der Kompensation, um damit die unmittelbare Zusammengehörigkeit der Kräfte und deren ausgleichende Funktion zu charakterisieren.
• Wir nehmen mit Freud die prägenden Kräfte (Kausalität) der frühen Kindheit als lebensstil-gestaltend an, ergänzen sie aber durch die von Adler als noch wichtiger angenommenen Zug-Kräfte (Finalität), die durch die eigenen Entscheidungen richtungsgebend ausgeübt werden.
In diesem Sinne sehen wir in der „schöpferischen Kraft“ (der Wahlfreiheit des Menschen) die entscheidenden Impulse für die Entstehung des Lebensstils, der persönlichen Gangart, der Strukturmuster des Charakters. Diese weit über Freuds Konzept hinausgehende Auffassung verdanken wir unserer Auseinandersetzung mit Alfred Adlers Theorie der Individualpsychologie.

Im nächsten Beitrag werde ich über die Psychodynamik der Beziehung zwischen Freud und Adler berichten.

Über die Einflüsse, die der Dritte im Bunde der großen Tiefenpsychologen – Carl Gustav Jung – auf uns ausgeübt hat, werde ich in einem weiteren Beitrag berichten. Dort werde ich dann besonders auf die druckbedingten inflationären Erscheinungen der Persönlichkeit eingehen und diese im Rahmen der plastischen Verformungen der SYNCHRONIZING-Kugel besprechen.

© Dr . Markus Jensch, SYNCHRONIZING-Institut Köln, 2008/2017

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