Alter schützt vor Weisheit nicht!

Unser Lebensstil – zwischen Gebundenheit und Freiheit
17. Juli 2016

Als ich während des Psychologiestudiums die Anwendung und Auswertung von Intelligenztests erlernte, stieß mir schon damals ein Begriff auf, den ich in der dargestellten Form einfach nicht akzeptieren wollte: Es war der Begriff „Altersabbau“. Nicht, dass ich davon ausging, dass es solch ein Phänomen nicht gebe – aber der frühe Beginn des Abbaus und auch das negativ klingende Wort irritierten mich: rein rechnerisch trat er in den Auswertungsschablonen für die IQ-Ermittlung schon mit dem Lebensalter von etwa 20 Jahren in Erscheinung und entwickelte sich mit zunehmendem Alter in rasanter Weise ins Negative. 1963 – zu Beginn meines Studiums – war Konrad Adenauer letztmalig Bundeskanzler geworden: sein Alter: 86 Jahre. Da hatte er schon 66 Jahre lang jährlich einen Abbau-Quotienten zu verkraften.

Als ich dann später erfuhr, wie die einzig gültige Definition der Intelligenz lautete: „Intelligenz ist, was der Intelligenztest misst“ – waren meine Zweifel an der psychologischen Testtheorie geweckt. Das änderte aber nichts daran, dass die Tests weiterhin Anwendung fanden und dass für ältere Personen (z.B. im Rahmen einer Tauglichkeitsuntersuchung für Kraftfahrer) diese Korrekturtabellen weiterhin im Umlauf waren.

Mehr als siebzig Jahre lang wurde diese Auffassung, dass der geistige Abbau schon früh beginnt, aufrechterhalten. Und niemand zog dieses Phänomen ernsthaft in Zweifel. So nistete sich die Überzeugung ein, dass älter werden mit geistigem „Abbau“ zwangsläufig einher geht. Aber was war mit den vielen Adenauers in der Politik? Mit den Beethovens und Verdis in der Musik – die eine „Neunte“ oder einen „Falstaff“ im hohen Alter produzieren konnten? Hätte Beethoven zu dieser Zeit einen IST (Intelligenz-Struktur-Test) absolvieren müssen, er wäre als teildebiler Seniler diagnostiziert worden.

In unserer Gesellschaft hat sich die Auffassung breit gemacht, dass man sich mit einem Alter Ü-Fünfzig beruflich schon abmelden kann. In großen Firmen werden Mitarbeiter, die gerade mal fünfzig Jahre alt sind, in den Vorruhestand geschickt. Sie seien nämlich zu unflexibel – nicht mehr wirklich lernfähig. Früher sprach man ehrerbietig vom weisen Alten. Heute muss er noch dreißig Jahre lang als unproduktiver Ressourcen-Verschwender auf dem Altenteil verbringen. „Heute“ stimmt Gott sei Dank nicht mehr, denn in vielen Betrieben setzt allmählich ein Umdenken ein. Alte werden als stille Reserve wieder wertgeschätzt. Das Umdenken beruht auch auf Erkenntnissen der Lernforschung. Christian STAMOV ROSSNAGEL, Lernforscher an der Uni Bremen, hat in einem Interview in der „ZEIT“ über wichtige Ergebnisse seiner Forschung berichtet. Und siehe da: die Zweifel, die ich vor fünfzig Jahren als Student der Psychologie hatte, sind bestätigt worden.

Die wichtigsten Ergebnisse, über die STAMOV ROSSNAGEL berichtet, sind in wenigen Sätzen gesagt:

  • Ältere sind bezüglich ihres Lernerfolges oft sogar besser als Jüngere, da sie neue Informationen in ein breiteres Vorwissen einbetten können. Sie haben mehr „Profil“, sind mehr „ausdefiniert“.
  • Die Sprachgewandtheit Älterer ist eindeutig höher als die Jüngerer.
  • Unterschiede in der Lernleistung lassen sich nicht durch das Alter, sondern durch Persönlichkeitsmerkmale bestimmen.
  • Jüngere sind besser, sobald Reaktionszeiten und Bearbeitungszeiten ins Spiel kommen.
  • Ältere fallen stark ab, wenn sie demotiviert sind und nicht mehr an ihre eigene Lernfähigkeit glauben.

Wenn „Alte“ ein Defizit in ihrer Leistungsbilanz haben, wird sofort das Alter als Verdachtsmoment ins Spiel gebracht. Wenn man vom einfachen „Vergessen“ beim jungen Menschen spricht, spricht man von beginnender „Demenz“ beim älteren Menschen. Der Durchschnittsmensch hat diesen Begriff endlich verinnerlicht – schon wird er inflationär eingesetzt.

Zurück zum „Faktor Zeit“. Intelligenztests sind durchweg so konstruiert, dass die Zeit einen wichtigen Anteil am Gesamtergebnis des sog. IQ generiert. Wer langsamer liest, oder gewissenhafter antworten möchte, hat schon einen Nachteil gegenüber den „schnell schießenden“ Kandidaten. Ältere und unsichere Menschen sind langsamer (bedächtiger) und somit zwangsläufig weniger intelligent – und zwar einfach dadurch, dass ihnen der Faktor „Zeit“ die Punkte vermasselt .

Und dann kommt noch ein weitgehend unterschätztes Phänomen ins Spiel: die selbst erfüllende Prophezeiung. Der amerikanische Soziologe Robert MERTON hat in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts eingehend beschrieben, wie sich die Zuschreibung einer Fähigkeit  – oder Unfähigkeit – auf diese selbst auswirkt. „Prophezeit“ man einem Kind, dass es niemals ein Instrument spielen könne, so bleibt es unfähig, ein Instrument zu spielen. Sagt man ihm, es sei begabt, wird es seine Begabung austesten und wahrscheinlich erfolgreich umsetzen. Nach MERTON nennen wir diese psychologische „Wahrheit“ eine „sich selbst erfüllende Prophezeiung“. Alfred ADLER hat in seinem letzten Buch (Lebensprobleme) auf Seite 30 drastisch beschrieben, wie die konsequente Entmutigung seine Leistungsfähigkeit herabsetzte. Es war aber nicht seine Lern-Fähigkeit, die gegen Null sank, sondern seine Lern-Bereitschaft.

Die Erkenntnis, dass positive wie negative Zuschreibungen oder Voraussagungen eine prägende Auswirkung auf die weitere Entwicklung eines Menschen haben, ist seit etwa vier Jahrzehnten bei Pädagogen und Erziehern angekommen. Die Tatsache, dass sich Prophezeiungen jedweder Art auf jeden Menschen jeden Alters auswirken, ist leider noch nicht in das Allgemeinwissen aufgenommen worden.

Ältere Menschen haben bisher gelernt, dass sie zur Ausübung vieler Aufgaben nicht mehr geeignet sind. Offen und verdeckt wird das kommuniziert. Die Folgen sind gravierend: Selbstzweifel nagen das Selbstvertrauen weg. Die Bereitschaft, sich neuen Lernaufgaben zuzuwenden, schwindet. Fehler, die sich einstellen, werden umgehend dem Alter (dem Abbau) zugeschrieben. Vergesslichkeit wird der Kategorie „beginnende Demenz“ zugeschrieben. Wer die digitale Welt nicht auf Anhieb versteht, weil er sich noch in der analogen Welt befindet, weist eben mentale Defizite auf. Die Überzeugung, dass man diesem Menschen helfen muss, weil er es ohne Hilfe nicht packt, wirkt wie eine negative Prophezeiung: Der Glaube an die eigene Lernkompetenz erlischt und die Entwicklung der Inkompetenz wird auf diese Weise eingeleitet.

Christian STAMOV ROSSNAGEL schildert das in dem ZEIT-Interview so: „Wenn ein Mann um die 70 am Fahrkartenautomat steht und nicht zurecht kommt, zweifelt man gleich an seinen kognitiven Fähigkeiten: Das ist zu modern für den Alten, der kommt damit nicht zurecht. Wenn aber ein 30-Jähriger dort Probleme hat, denkt jeder: Die Dinger sind einfach nicht benutzerfreundlich“. In einem Lernexperiment briefte der Forscher eine Gruppe von Arbeitnehmern zwischen 50 und 60 Jahren, sie könnten genauso gut lernen wie 30-Jährige. Sie schnitten bei Lerntests später genauso gut ab wie die Jüngeren und brauchten sogar 20% weniger Lernzeit. Bei einer Vergleichsgruppe schnitten die Älteren schlechter ab, weil man sie im Glauben ließ, dass sie langsamer lernen als Jüngere. Grundsätzlich gilt – so STAMOV ROSSNAGEL – ,dass Jüngere besser abschneiden, sobald die Reaktionszeit gemessen wird. Ältere sind auf gleichem Niveau, wenn die Herausforderungen breiter, umfassender und komplizierter sind.

Was ist die Quintessenz aus diesen Forschungsergebnissen?

  • Wir sollten den Begriff „Altersabbau“ erst dann verwenden, wenn ein Abbau – z.B. in Form einer Demenzerkrankung eindeutig diagnostiziert wurde. Ansonsten haben wir es mit „Veränderungen“ der Lernkompetenz zu tun. Ältere lernen anders als Jüngere, Jugendliche lernen anders als Kinder usw.
  • Jedes Individuum hat seine eigene Lerngeschichte, hat eigene Strukturen, in die das neu Gelernte eingebaut werden kann.
  • Wer schneller lernt, lernt nicht besser – er lernt anders.
  • Wenn man Menschen entmutigt, fällt die Lernleistung ab. Wenn man ermutigt, steigt sie an.
  • Im ZEIT-Interview lautet eine Überschrift: „Lernen im Alter? Yes we can!“

Ältere Menschen können – bedingt durch ihre Lebensgeschichte – leichter demotiviert werden als Jüngere. Der Lernforscher sagt dementsprechend: „Es geht häufig nicht darum, zu motivieren, sondern nicht zu demotivieren!“

Wenn wir diese Erkenntnisse in die Zukunft projizieren, können wir das Problem der Alterspyramide in unserer Gesellschaft mit ihren katastrophalen Auswirkungen auf die Rentenentwicklung etwas gelassener betrachten. Viele Alte möchten gerne arbeiten – sie dürfen es aber nicht. Lasst uns doch Programme auflegen, die arbeitswillige Senioren wieder in Arbeit bringen. So können sie den Jungen einen Teil ihrer Ängste nehmen, anstatt das Gefühl haben zu müssen, ihnen als Schmarotzer auf der Tasche zu liegen. Die Alterspyramide ist eine Herausforderung. Packen wir sie an – mit ermutigten, positiven, weisen Alten.

Und wenn Sie – liebe Leser – die Meinung haben, dieser Beitrag könnte irgendwas mit dem Alter des Autors zu tun haben, dann liegen Sie natürlich richtig!

Bezug: www.zeit.de/2013/49/interview-lernforscher-aeltere-neues-lernen

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