Missglückte Paar-Therapie: „Carmen“ in Aix-en-Provence
eine Kurzrezension von Markus Jensch
Der Sender arte übertrug am 6. Juli 2017 aus Aix-en-Provence die Oper Carmen von Georges Bizet. (1838-1875) Der russische Regisseur, Dmitri Tcherniakov, versetzte die Oper aus den Schmuggler-Bergen in eine „psychiatrische“ Eingangs-Lobby. Fiktion und Wirklichkeit laufen in dieser Inszenierung immer wieder so stark auseinander, dass einige der Akteure – und auch der Zuschauer – die jeweiligen Ebenen nur schwer auseinander halten kann. Im Alter von 37 Jahren erlebte Bizet drei Monate vor seinem Tod die Uraufführung, die ein geteiltes Echo fand.
Zum Inhalt der Aix-en-Provence-Aufführung: Ein Ehepaar – Micaela und Don José – kommen in eine Therapie-Einrichtung. Dort soll mit einem speziellen Therapie-Verfahren der melancholische Ehemann von Micaela schnell geheilt werden. Die Therapie ähnelt einem Rollenspiel nach Art eines Psychodramas oder einer Familienaufstellung. Die psychologisch-psychiatrische „Einrichtung“ stellt alle Requisiten und ein bezahltes Therapie-Ensemble für die Behandlung. Dem frustriert-depressiven Ehemann soll die verlorengegangene Begierde wieder erweckt werden. Die provokante Carmen mimt die Verführerin, Escamillo – der Torero – spielt den Rivalen, der dem lustlosen Ehemann Feuer unterm Hintern machen soll. Die Ehefrau Micaela kommt zwischendurch immer mal kurz in die Therapiesitzungen, um den Fortschritt der Behandlung zu überprüfen.
Ein ärztlich-psychologischer Leiter diagnostiziert zwischendurch den aktuellen Stand der Therapie. Die Mitarbeiterinnen der Einrichtung spielen die umgebende „Welt“. Sie feuern an, provozieren, spenden Beifall und bringen auf diese Weise das therapeutische Rollenspiel Schritt für Schritt voran. Man wird erst zum Schluss merken, dass dieses Spiel einer Behandlung exakt durchgetaktet ist. Alles läuft nach einem therapeutischen Format ab: so, als ob es sich um eine Spezialeinrichtung zur Behandlung von durchhängenden, depressiven Burnout-Patienten handelt. Ablauf der Behandlung: aufmuntern, einbeziehen, zeigen, was bisher zu kurz im Leben des Patienten kam, Übertragungssituationen schaffen, provozieren, abhängig machen, aufpeitschen und umfinalisieren (neu-formatieren). Eine Familienaufstellung oder eine gestalttherapeutische Behandlung amerikanischen Musters könnte ähnlich ablaufen.
Der Erfolg ist bei solchen Provokations-Therapien nicht immer garantiert. Es kann auch daneben gehen – wie im Falle von Don José. Er verliebt sich nämlich in Carmen: wirklich.
Auch die Hinweise zwischendurch, dass es sich um eine Therapie handelt, nutzen nichts. Die libidinöse Erregung greift ins Hirn des Patienten und verdreht das „Lern-Spiel“ in eine grausame Wirklichkeit. Die therapeutische Leitung verliert den Überblick, die Mitspieler schätzen die Situation sehr unterschiedlich ein. Die einen lachen – nur wenige erkennen den Ernst der Situation. Carmen, die bestellte Verführerin erkennt, dass aus Spiel Ernst geworden ist. Sie will aussteigen. Doch die Therapieleitung beharrt auf Erfüllung des Vertrages.
Don José tritt vorübergehend in den Hintergrund – quasi als heimlicher Beobachter – und nimmt an einem Neuaufguss der Therapie teil. Dort wird der nächste frustrierte Ehemann in das therapeutische Rollenspiel eingewiesen. Alles läuft exakt so ab, wie bei seiner Behandlung. Nur: dieses Mal erlebt er es aus der Perspektive des frustrierten Verliebten, der erkennt, dass seine geliebte Carmen nur eine Schauspielerin ist. Aus diesem – mittlerweile psychotischen – Zustand erwächst das Drama: José tritt aus dem Hintergrund hervor und mischt sich in das laufende parallele Geschehen ein. Escamillo heizt dem Neuen ebenso ein, wie er es mit José gemacht hat. Er bringt damit aber José in tiefe Verzweiflung und Rage. Escamillo demütigt ihn. Spiel und Wirklichkeit gehen nun ineinander über.
Die anderen Spieler verlassen die Bühne. José und Carmen sind alleine. Carmen klärt José auf, dass sie nichts für ihn empfindet. Dies verletzt José sehr und treibt ihn in den Wahnsinn. Sie überreicht ihm zum Schluss ein Messer, mit dem José sie schließlich martialisch niederstreckt. Beide liegen am Boden. Die Therapie-Clique tritt wieder ein, Carmen steht auf und José muss erkennen, dass er nur mit einem Fake-Messer aus Gummi zugestochen hat.
Das Therapie-Experiment ist total gescheitert. Das Ensemble hat einen zerstörten Patienten zurückgelassen. Ganz ähnlich geschieht das in psychodramatischen Schnell-Sitzungen, in denen die Übertragungssituationen nicht mehr beherrschbar sind. Wenn aus einer neurotischen Episode eine psychotische wird, kann der Schuss in die falsche Richtung gehen. Die Paar-Therapie ist misslungen.
Erstaunlich ist, wie präzise die Original-Musik mit den Originaltexten in die neue Szenerie passt. Die musikalischen Höhepunkte werden total synchron mit der neuen Handlung vereint. Ein geniales Meisterwerk, bei dem die Dramaturgie der Geschichte – und nicht das sterile Bühnenbild – den Opernbesucher fesselt. Wie in einem Hitchkock-Film wird die Dramaturgie langsam aufgebaut und so gesteigert, dass der Zuschauer/Zuhörer gar nicht mehr loslassen kann. In der ersten Stunde braucht er aber viel Geduld – ähnlich den Hitchkock-Thrillern, die erst gegen Ende „thrillern“, dann aber umso heftiger.
Ich habe Carmen viele Male gesehen – aber ich habe die Oper jetzt wirklich verstanden und vom Inhalt her lieben gelernt. Die Musik ist ohnehin so tiefgehend, dass man sie immer wieder mit Spannung und Genuss hören kann. So stimmig ist eine „alte“ Oper selten in ein neues Umfeld transformiert worden. Ich war und bin begeistert.