Frei nach Jerome KAGAN: über die Erfindung psychischer Massenleiden. Eine Stellungnahme zu dem SPIEGEL-Interview mit Jerome KAGAN: „Nachhilfe statt Pillen“, Quelle SPIEGEL
von Markus JENSCH
Der Entwicklungspsychologe Jerome KAGAN wird auf der Liste der bedeutendsten Psychologen des 20. Jahrhunderts auf Platz 22 geführt – noch vor C.G. JUNG und Iwan PAWLOW (die Kriterien dieser Listung sind mir nicht zugänglich – im übrigen zweifle ich sie an. Dennoch sind KAGANs Aussagen so interessant, dass ich sie hier kurz darstellen und kommentieren möchte).
KAGAN hat mit zahllosen Untersuchungen zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen alte Urteile und Vorurteile entkräften können. Beim Lesen seiner Statements fühlte ich mich in eigenen Aussagen bestätigt, mit denen ich mir vor Jahren eher Feinde als Freunde geschaffen hatte – z.B. zu den Themen ADHS* und Depression.
Schon in den Siebziger Jahren, als die Legastheniewelle ihre zerstörerischen Spuren hinterließ, stellte ich mich dem Modetrend entgegen. Die Legasthenie wurde wie eine Krankheit gehandelt – mit dem Effekt, dass Kinder (gemäß Erlass) versetzt werden mussten, selbst wenn sie nicht in der Lage waren zu schreiben. Sie konnten sich „zufrieden“ zurücklehnen und (fast stolz) behaupten, sie seien „LRS-Kinder“. In den Neunzigern ebbte der Trend ab. Der schädliche Erlass wurde heimlich einkassiert, und die lese- und schreibschwachen Kinder mussten sich wieder anstrengen und üben – was ihnen langfristig natürlich besser bekam als das Unterlassen dieser unangenehmen Pflicht. Auf diese Weise produzierte die Republik ein kleines Heer von intelligenten Halb-Analphabeten, die z.T. noch heute unter ihren Defiziten leiden. Ich habe diesen Trend live mitbekommen, da ich in dieser Zeit an der Abteilung für Heilpädagogik der Universität zu Köln im Fach Psychologie der Erziehungsschwierigen lehrte.
Zu der Zeit als der Legasthenieboom langsam abebbte, hatte sich – aus den USA kommend – die Droge Ritalin bei uns eingebürgert. So wurde es „modern“, die zur Droge gehörende Krankheit zu diagnostizieren – das Zappelphilipp-Syndrom ADHS. Heute gibt es mehr als fünf Millionen Betroffene in den USA und – nacheilend – stiegen auch in Deutschland die verordneten Ritalin-Tagesdosen von 11 Millionen im Jahr 2000 auf 56 Millionen in 2010 an. Dabei haben 90% der gedopten Kinder nicht einmal einen gestörten Dopamin-Stoffwechsel. „Das Problem ist: Wenn Ärzte ein Medikament zur Verfügung haben, stellen sie auch die entsprechende Diagnose“ (KAGAN, S. 95).
Weil entsprechende Pillen verfügbar seien, würden heute zehnmal mehr Jugendliche wegen einer Depression behandelt als vor 20 Jahren – so KAGAN weiter. Ohne A. ADLER zu erwähnen, nennt KAGAN als wahre Ursache einer Depression das Nichterreichen eines lebenswichtigen Zieles. Ein ADLERianer würde die Ursache im „Scheitern an einem zu hoch gesteckten Ziel“ suchen – was im Prinzip das Gleiche aussagt. Er selbst (KAGAN) habe vor 35 Jahren nach dem Scheitern einer bedeutenden Arbeit eine Depression entwickelt. „Die meisten Depressionen dieser Art gehen vorbei“… ohne Behandlung (S. 96).
Ähnlich urteilt KAGAN über die Zunahme sog. bipolarer Störungen (manisch-depressive Erkrankungen). „Die Pharmahersteller waren begeistert, denn Medikamente gegen bipolare Störungen sind teuer“ (KAGAN, S. 96). Ob es für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche Alternativen zu Psychopharmaka gebe? „Aber sicher“ – so KAGAN – „bei welchen Kindern wird denn ADHS diagnostiziert? Bei denen, die schlecht in der Schule sind. Guten Schülern passiert so etwas nicht. Wie wäre es also mit Nachhilfe statt Pillen?“ (S.96).
Vor hundert Jahren empfahl Alfred ADLER, die Erzieher – insbesondere die Lehrer – mögen dazu beitragen, die kindlichen Versagensängste mit Ermutigung und konsequentem Üben zu überwinden. Rudolf DREIKURS, der bedeutendste Schüler ADLERs, hat seine gesamte Erziehungsphilosophie auf den Wirkfaktor Ermutigung gegründet. Und Theo SCHOENAKER, einer der wichtigsten Dreikursschüler in Europa, hat diese wirksame „Behandlungsmethode“ perfektioniert. „Mut tut gut“ – nennt er seine Kurzformel zur Behandlung vieler psychischer Störungen. Er hat ein komplettes „Encouraging“-Programm dazu entwickelt. Im VpIP** wird dieses Programm nach allen Regeln der Kunst gelehrt und weiterentwickelt.
Wenn wir in der Lage sind, Störungen wie „reaktive Depression“, Legasthenie oder ADHS als Folge einer systematischen ENTmutigung zu verstehen, wird als logische Folge vor allem die systematische ERmutigung zur Problembehandlung in Frage kommen. In diesem Sinne habe ich den Titel des KAGAN-Interviews „Nachhilfe statt Pillen“ individualpsychologisch transformiert in „Ermutigung statt Pillen“! Dieses Grundmotto der IP (die IP ist natürlich nicht grundsätzlich gegen „Pillen“) gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene, die sich in einer verzweifelten Lage befinden.
Auch „SYNCHRONIZING“ – das moderne individualpsychologische Diagnose- und Behandlungsprogramm – bedient sich der o.g. Erkenntnisse der Individualpsychologie. In den Ausbildungen zum Coach-SYNCHRONIZING werden u.a. die Methoden und Techniken der Ermutigung systematisch vermittelt. Mehr über die Ausbildung erfahren Sie in unserer Homepage www.synchronizing.de. Oder Sie fragen unter info@synchronizing.de direkt bei uns an.
* Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung
** Verein für praktizierte Individualpsychologie
p.s.: KAGAN hat in seinen Forschungen zur Entwicklungspsychologie herausgefunden, dass sich frühgestörte Kinder normal entwickeln können, wenn sie danach in ein günstiges Umfeld kommen. Es ist unser Beratungsauftrag, durch Ermutigung der Eltern und Erzieher den Kindern günstigere Entwicklungsbedingungen zu verschaffen. Ich möchte dazu ergänzend anfügen, dass psychische Störungen in jedem Alter durch ermutigende Begleitung geheilt oder deren Folgen deutlich gelindert werden können