Die Finalität der Gefühle

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von Markus Jensch

Denken – Fühlen – Handeln: aus diesem Dreiklang ergibt sich das, was ADLER den Lebensstil nennt. Dieser Lebensstil ist ein kunstvoll geflochtenes Produkt aus Bestandteilen, die es „einzeln“ gar nicht gibt. Es gibt kein Denken ohne Gefühlsbeteiligung und keine Gefühlsregung ohne Denkbeteiligung – und Verhalten ist ohnehin immer mit im Spiel.

Unsere langjährige Erziehung im Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule, in der Lehre oder der Universität hat uns das Prinzip des kausalen Denkens, der sich bedingenden Verkettung von Einzelteilen so selbstverständlich eingetrichtert, dass wir kaum davon lassen können, durch zergliedernde Teilebetrachtung den Weg zum Ausgangspunkt einer Störung zu suchen. Es ist einfach logisch, dass wir dick werden, weil wir zu viele Kalorien zu uns nehmen, dass wir betrunken sind, weil wir zu viel Alkohol getrunken haben oder dass wir Ängste haben, weil wir früher traumatische Erlebnisse hatten. Dieses „WEIL“-Denken scheint logisch und richtig zu sein. Wir müssen die Ursachen einfach ausschalten, abstellen oder unschädlich machen: Motto: „Nimm weniger Kalorien zu Dir, trinke keinen Alkohol“.

Wirkungen sind ursachenbezogen

Das Denken in „Ursache-Wirkungs“-Zusammenhängen ist der einzig „richtige“ Denkansatz im Bereich der unbelebten Materie. In der Welt der Dinge gibt es keine Finalität. Ein Auto hat kein Ziel. Der Mensch, der es benutzt, hat es schon. Vierhundert Jahre René Descartes haben im Denken der Menschen Spuren hinterlassen, die das Ursache-Wirkungs-Prinzip unangefochten in den Vordergrund modernen Denkens gerückt haben.

Motive sind zielorientiert

In der Welt des Lebendigen aber ist die Finalität der Kausalität übergeordnet. Wir können eine Ess-Sucht nicht abkoppeln vom Ziel (Sinn) des Essens: Esse ich gegen meinen Aggressions-Stau oder um meine Verzweiflung zu überwinden? Streichele ich meine gestresste Seele mit wohligem Süß, oder gestalte ich mich (unbewusst) adipös, um nicht attraktiv (im sexuellen Sinne) zu wirken? Es gibt so viele Motive, unkontrolliert zu essen, wie es essgestörte Menschen gibt. Die Finalität der Sucht ist immer eine hoch-individuelle. Sie ist der Kausalität an der Kalorienfront übergeordnet. Die Kalorie wird erst in Zusammenhang mit den Essmotiven für die Betrachtung des menschlichen Handelns bedeutsam – jedenfalls aus Sicht der IP.

Ebenso verhält es sich mit der Alkoholabhängigkeit: Dass der verzweifelte Süchtige den Alkohol zielgerichtet nutzt, um gefesselte Gefühle zu entfesseln, das wird von kausal denkenden Wissenschaftlern kaum in Betracht gezogen. Das Ziel als Ursache sehen zu lernen – auf solch einen „verrückten“ Gedanken hat uns Alfred ADLER in hartnäckiger Form aufmerksam gemacht.

Gefühle sind schöpferische Produkte.

So wie wir unser Verhalten bewusst und unbewusst programmieren, so programmieren wir auch unser Denken. Und wir programmieren unsere Wahrnehmungsfilter so, dass sie nur das unbewusst Gewünschte in unser Gehirn durchsickern lassen. Und so, wie wir unser Denken, unser Verhalten und unsere Wahrnehmung nach unseren Bedarfen programmieren, so programmieren wir auch unsere Gefühle. Auch unsere Gefühle sind schöpferische Produkte unserer Leib-Seele-Einheit. All das hat uns Alfred ADLER gelehrt. Und er war mit seiner Theorie seinen Zeitkollegen um Jahrzehnte enteilt.

Viele denken, dass ihre „alten“ Gefühle die Ursachen für ihre aktuellen Gedanken und Handlungen seien. Dabei werden die Gefühle von uns selbst gemanagt, d.h. ausgewählt und bereitgestellt. So versorgen sie den aktuellen Lebensstil mit seiner existentiellen Motivationsnahrung. Aus dem riesigen Flickenteppich erlebter Gefühle werden diejenigen passgenau zusammengestellt, die dem aktuellen Lebensentwurf seinen Antrieb geben. Die Gefühle können wir verstehen als das Gaspedal des aktuellen Lebensstils. Der Lebensstil drückt mehr oder weniger aufs Gas – je nach Dringlichkeit der persönlichen Zielsetzung. Unser Verhalten schließt sich den beiden starken Geschwistern (Fühlen und Denken) unter der Regie des Lebensstils an.

Gefühle erscheinen und verschwinden – je nach Notwendigkeit.

ADLER schreibt: .. „die individuelle Apperzeption liefert dem Gedächtnis die Wahrnehmung entsprechend der Eigenart des Individuums. Die Eigenart des Individuums übernimmt den so geformten Eindruck und stattet ihn mit Gefühlen und mit einer Stellungnahme aus. Letztere beide gehorchen wieder dem Bewegungsgesetz des Individuums“ (Sinn des Lebens, S.134*). Weiter schreibt ADLER: „Wir können auch feststellen, dass Gefühle je nach Notwendigkeit erscheinen und verschwinden“ (What Life, S.31*).

Gefühle wozu? Welchen „Nutzen“ haben sie?

In dem Buch „Schlank&stark“ (Herzsprung-Verlag, 2016**) beschreibe ich eine Klientin, die sich seit ihrer Pubertät einen regelrechten Fettpanzer angefuttert hat. Über ein projektives Verfahren fanden wir heraus, dass ihr ihre adipöse Figur als „geheime Waffe“ gegen sexuelle Übergriffe dienlich ist. Der Missbrauch ist kausale Wirklichkeit. Die unbewusste Entscheidung, sich durch die Effekte des Essens unattraktiv zu machen, folgt ihrer privaten Logik. Sie bleibt dadurch Gestalterin ihrer Beziehungen: Partner gehen nicht auf sie zu, sondern sie geht auf Partner zu. Und diese wählt sie so aus, dass ihr die Rolle eines Opfers erspart bleibt.

In dem Buch „Angst und Alkohol“ (Rot-Gelb-Grün-Verlag, 1992) beschreibe ich einen Klienten, der sich regelmäßig in einen Film-Riss-Vollrausch begibt. Der Vollrausch ist die unbewusste Methode, mit der er seinen Hass und seine sexuellen Bedürfnisse aus dem Käfig der Vernunft und des Anstandes befreit. Die im Nüchternen zu kurz kommenden Anteile (Perversion und Aggression) können im Rausch exzessiv ausgelebt werden – das kontrollierende Großhirn hatte er ja zuvor schachmatt gelegt. Seine Frau und seine Mutter sagen, der Alkohol mache aus dem lieben Mann, aus dem braven Jung’ eine Bestie. Er selbst könne ja nichts dazu. Eine Folgeabstinenz von einigen Monaten lässt ihn bei anderen wieder harmlos und lieb erscheinen. So reguliert er durch regelmäßiges Quartals-Trinken seine aggressiven und sexuellen Bedürfnisse und gilt dabei noch als „lieber Kerl“ – eine wahrlich kunstvolle Synthese.

Opfer oder Täter?

Ist er nun Opfer seiner frühen, traumatischen Erlebnisse? Oder ist er auch Täter, indem er im Nüchternleben seiner Lebenslüge treu bleibt, indem er den harmlos-zahmen Sohn und Partner abgibt und dabei fortwährend die Faust in der Tasche macht? Er versteht die Zusammenhänge zwar nicht so, wie ich sie hier beschreibe – er könnte sich aber schlau machen, nachdem er dreimal den Führerschein verloren, mehrere Menschen verletzt hat und seine Trinkexzesse nach wie vor bagatellisiert. In seiner Verantwortlichkeit liegt es, seinen problematischen Lebensstil auf den Prüfstand zu stellen und sich helfen zu lassen – was er letzten Endes unter behördlichem Zwang auch getan hat.

Wie das Ziel zur psychischen Kausalität wird.

Gefühle sind lebendige, sich ständig verändernde organische Einheiten (sog. „Unterganze“) des ganzheitlichen Lebensstils. Sie werden gespeist von den Lebenserfahrungen (kausalen Bedingtheiten) einerseits und den Lebenszielen (finalen Strebungen) andererseits. Die „Klammer“ in dem kausal-finalen Zusammenspiel bildet der alles vereinheitlichende Lebensstil. Das physische Ereignis führt als Ursache zu einer physischen Wirkung (Beispiel: Ein Kind bekommt eine Ohrfeige – seine Backe wird dick). Die Interpretation des Ereignisses und seiner Wirkung führt zu einer Entscheidung, die in eine Zielsetzung mündet (Ziele des Kindes: „Ich vermeide aggressive Auseinandersetzungen“ oder: „Ich werde stärker als alle anderen“). Nach der „Eingabe“ eines der Ziele mittels eines „Psycho-Navi“ (z.B.: „Ich muss stärker sein als andere“), wird jede zukünftige Abweichung von der Route im Sinne des festgelegten Zieles korrigiert. Das Ziel bestimmt die Route und wird somit zur finalen Kausalität. Diese finale Kausalität ist der physischen Kausalität übergeordnet. Eine Angst im späteren Leben kann völlig irrational sein – wenn z.B. aus dem schwachen Kind ein erfolgreicher Boxer würde, der Angst vor Ohrfeigen hat. Die Moral von der Geschicht’: Der „Vermeider“ produziert andere Gefühle als der „Stärkere“, obwohl bei beiden die Ohrfeigen am Anfang der Kausalkette standen.

* Zitiert aus Ansbacher & Ansbacher: Alfred Adlers Individualpsychologie, Reinhardt, München 1972
**vgl. schlankundstark.de

***Dieser Beitrag von mir erschien im Magazin für praktizierte Individualpsychologie:
„Lichtblick“, Heft 99 (März 2017), Seiten 6 und 7.

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